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Streetsurfing

Streetsurfing

von Johannes Riegsinger, erschienen in der MO 4/98

Irgendwann in der Steinzeit kam ein Neadertaler auf die Idee, sich auf den Ruecken eines Pferdes zu setzen, anstatt es zu essen. Der brutale Abzug des Gauls muss so bestechend gewesen sein, dass der Neander beschlossen hat, Pferde zum Angasen zu benutzen. Es steckt eben im Menschen. Alles, was schneller ist als er zu Fuss, wird genuesslich zur Brust genommen.

Rasen. Bis zur Besinnungslosigkeit ueber die Landstrasse brettern. Sich Schraeglagen reinziehen, die entgegenkommende Autofahrer mit offenstehenden Mund und voellig fertig den naechsen Parkplatz suchen zu lassen. Warnschilder und Tempolimits grosszuegig ignorieren, jeden anderen als Gegner und obendrein noch einen Heidenspass haben. Heizen. Blasen. Jagen. Uuaah!

Klar, nicht jeder will und braucht das. Ist ja auch verboten und gefaehrlich. Man kann dabei sterben, im Rollstuhl enden, den Fuehrerschein und viel Geld verlieren. Und trotzdem ist das gut durchgewaermte Fahren auf Landstrassen die Essenz des Motorradfahrens. Du hockst auf dem Eisen, drehst am Gas und es geht vorwaerts. Einfach nur vorwaerts. Es tut so gut, wenn man Beschleunigung nicht am Tacho ablesen muss, sonder spuert, wie es einem die Augen in Richtung Gehirn zieht, die Eingeweide gegen das Rueckgrat presst und die Arme laengt. Aber es muss gar nicht die Brachialbeschleunigung Marke "Tritt in die Nieren" sein. Es reicht, immer wieder in langen Zuegen die Geraden runterzufraesen und zu hoffen, dass eine Kurve kommt.

Selbst auf einer Drossel-125er ist es aeusserst vergnueglich, das Motoerchen arbeiten zu lassen, die Gaenge im richtigen Augenblick reinzutreten und beim Geschwindigkeitskontrollblick auf die immer zorniger vorbeifliegenden Buesche zufrieden festzustellen, dass man an der naechsten Kurve entschlossen in die Eisen muss, wenn es nicht "Hecke" anstatt "Ecke" heissen soll.

Bremsen ist nicht laestig, sondern auch schoen. Wer liebt es nicht? Zischend fahren die Kolben gegen die Scheiben, und je nach Untersatz ist die Bremswirkung... aeh, hoffentlich richtig gut. Der Koerper wird schwer und schwerer, der Vorderreifen braust beleidigt am Asphalt, und wenn es genau bis in die Ecke reicht, war's gut.

Zeit fuer ein Gestaendnis: Es gab eine Zeit in meinem Leben - so kurz nach achtzehn - da waren BMWs fuer mich das Sinnbild der Traegheit. Ich weiss nicht mal weshalb, aber ich war der festen Meinung, dass Leute, die BMWs fahren, schlicht und einfach Angst haben. Ist doch logisch: Wie kann sich jemand mit gesundem Menschenverstand ein so kreuzhaessliches Ding wie eine K 100 kaufen, wenn er eine GSX-R haben kann? Oder irgendetwas anderes, das aussieht wie ein Motorrad und nicht wie ein Kuechengeraet.

Eines Tages feure ich so recht fidel dem Schwarzwald hinunter und sehe zu meinem grossen Entzuecken in der Ferne eine BMW auf meine Strasse einbiegen. Nagelneue K 100 RS, Koffer aus dem BMW-Zubehoerprogramm, Systemhelme, korrekt gekleidete Sozia und am Lenker - dem Bauchumfang nach zu schliessen - ein Herr im besten Alter. Das klassische Feindbild! Mit einem Freudenjuchzer gingen bei mir alle Systeme auf Angriff, ich wollte dem alten Herrn zeigen, was eine Harke ist.

Fuenf Minuten spaeter, nachdem ich in diversen Ecken so knapp wie nur irgend moeglich dem Einschlag entgangen war, musste ich mein Weltbild einer grundlegenden Revision unterziehen. Der alte Knabe hatte mir derart laessig die rote Laterne umgehaengt, dass ich den Traenen nahe war. Und das Schlimmste: Er hatte mich wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, waehrend die Dame auf dem Ruecksitz derart gelangweilt wirkte, dass ich vermuten musste, dass ihr das Geraeusch der auf dem Boden schrappelnden Koffer altbekannt war.

Andere Anekdote. Ich stehe nach Feierabend am Streckenabschnitt Pflanzgarten der Nuerburgring-Nordschleife. Den Berg herunter kommt ein Ducati 916, deren kernig gedrehter Desmo schon im Wald deutlich zu hoeren ist, der Fahrer scheint mit Ernst bei der Sache zu sein. Heftiger Hang Off im Kurvenscheitel verhilft ihm jedoch auch nicht zum entscheidenden Speedvorteil gegenueber dem Mittsechziger und seiner metallic-braunen R 1100 RT, der ihn locker aussen nimmt. Aufrecht sitzend, aus dem Radio weht Swingmusik, der weisse Bart quillt aus dem Helm. Perfekt.

Was schliessen wir aus diesen Ereignissen: Geschwindigkeit ist Ansichtssache. Geschwindigkeit hat nur bedingt was mit dem gefahrenen Motorrad zu tun. Der lockere Fahrer macht Tempo, nicht der gestresste. Der legt sich nur zielsicher aufs Ohr. Und: Ich will nie mehr das Genoergel der Gereiften hoeren. Jungs, Ihr seid durchschaut! Ihr habt Euch doch mit den Horex, Max und anderen Truemmern auch ordentlich auf die Ohren gegeben. Stimmt's? (Reuige Gestaendnisse bitte an die Redaktion MO)

Warum aber tun wir es alle, in mehr oder minder drastischen Ausmass? Antwort: Es ist schoener als Fliegen. Egal, ob es der beinharte Raser ist, der tatsaechlich versucht, das Leistungspotential seiner Fireblade auszureizen, oder ob es sich um den mit mathematischer Praezision vorgehenden Ideallinienfuchs handelt, schnell fahren macht gluecklich! Uns es ist vermutlich sogar gesund. Was soviel heisst, dass Ihre Krankenkasse es empfehlen wuerde. Solange Sie sich nicht auf die Erde hauen... Aber das ist ein Thema fuer sich.

Stuerzen, darin sind sich die Experten einig, gehoert zum Motorradfahren wie das Erbrechen zum Alkoholgenuss. Wer nicht bricht, hat entweder enorme uebung oder einfach nicht alles gegeben. Ein kleiner Sturz ist besonders fuer Einsteiger unvermeidlich. Und wer hat schon aufgehoert Fahrrad zu fahren, weil es ihn als Kind vom Drahtesel gerissen hat? Also Schluss mit dem Gejammer.

Problematisch wird es erst, wenn die Zahl der Stuerze mit den erfahrenen Kilometern nicht abnimmt. Dann duerfte das gefahrene Durschnittstempo ziemlich sicher ueber der natuerlichen Reaktionszeit sowie vor allem dem IQ des Sturzpiloten liegen.

Es ist aber auch ein heikles Thema. Denn Stuerzen macht, bis auf Ausnahmen, keinen Spass. Obendrein faellt es sich mit steigenden Tempo haerter. Ein bekannter deutscher Motorradtester hat mir das vor kurzem mit den Worten bestaetigt: "Wenn du das erste Mal aufschlaegst, spuerst du, wie die Knochen brechen. Das ist ja noch okay. Beim zweiten Mal splittern sie. Das geht dir schon nahe. Beim dritten Mal spuerst du, wie sich die Splitter ineinander schieben, und ab da ist dir das Ergebnis egal." Diesen Worten ist nichts hinzuzufuegen.

Wie aber kann man Stuerze vermeiden, ohne langsamer zu werden? Als erstes zaehlt einzig und alleine die uebung. Man kann es nicht oft genug sagen: Je mehr Motorrad man faehrt, umso sicherer wird man. Motorradfahren funktioniert eben ganz anders als Autofahren. Waehrend man an das Lenkrad eines Autos einfach ein Gehirn anschliessen muesste, um die Kiste nach links oder rechts zu steuern, ist beim Motorrad unbedingt ein komplizierter Koerpereinsatz notwendig. Und der ist uebungssache.

Zweite Regel: Ein Motorrad faehrt dahin, wo der Fahrer hinschaut. Schwarze Katze von rechts? Einfach erschreckt auf die Mieze starren, und es gibt eine weniger. Zu schnell am Kurveneingang? Eiserner Blick auf die Grasnarbe, und es geht garantiert ab in die Buesche. Im positiven Fall heisst das aber, dass durch diszipliniertes Entlanghangeln an einer eindeutig ins Auge gefassten Linie selbst auf Strassen dritter Ordnung furchterregende Tempi moeglich sind. Die Augen duerfen dabei keineswegs dicht vor dem Motorrad kleben, sondern muessen der Maschine weit vorauseilen. Der kluge Mensch lernt hieraus aber auch, dass ein Motorrad dann am sichersten bewegt wird, wenn man auf jeden Fall sieht, wohin es geht. Schonungsloses Reinhalten in blinde Ecken ist etwas fuer die Rennstrecke oder fuer Bekloppte.

Dritte Regel: Schraeglage. Schnelles Fahren ohne die psychische Faehigkeit zur Schraeglage ist A) nicht moeglich und B) gefaehrlich. A), weil ein Motorrad mit zunehmender Geschwindigkeit bei gleichbleibendem Kurvenradius einfach einen groesseren Schraeglagenwinkel braucht. B) ist die Geschichte dazu: Wer hemmungslos in Ecken braet, die dann zuziehen und sich vor weiterem Abwinkeln fuerchtet, macht blitzartig den Abflug. Deshalb sollte man staendig an seiner persoenlich moeglichen Schraeglage feilen, im Ernstfall ist das mehr wert als jedes ABC, alle ADAC-Mitgliedschaften und Protektorenkombis zusammen. Also runter mit dem Hobel, ohnmaechtiges Vertrauen in den Griff der Strasse kostet enorme Ueberwindung, aber die Belohnung ist wundervoll: Der Horizont verzerrt sich, als habe die Maschine Klauen und Zaehne, haelt sie sich am eingeschlagenen Radius fest, das Blut fliesst so wundervoll warm und zaeh. Yippieh.

Wer an seiner Schraeglage feilt, beschaeftigt sich ueeber kurz oder lang mit dem Grip seiner Reifen. Dazu kann nur gesagt werden, dass in den meisten Faellen nicht der Reifen das Limit setzt, sondern die Strassenoberflaeche. Deshalb gilt die Regel zwei: Guck dir an, wo du hinbraetst, und das rechtzeitig.

Vierte Regel: Dem Radius der Kurve auf der Aussenlinie so lange folgen, bis man deutlich den Kurvenausgang sichtet und erst dann nach innen vollstrecken. Wer in lockerer Racer-Manier die vermeintliche Ideallinie entlangglueht, kann sich unversehens vor einer brutal zuziehenden Hundekurve finden. So hat schon mancher sein Moped im Gegenverkehr versenkt. Was an der Aussenlinie noch wichtiger ist: Nur so ist der Schaedel vor den Kuehlern entgegenkommender LKWs sicher. Vorsicht aber mit der Strassenoberflaeche, denn logischerweise finden sich Rollsplit, Schmodder und oel meistens an der Aussenbahn.

Und Regel fuenf: Hartes Bremsen in Kurven ist voelliger Schwachsinn! Erstens stellen moderne Niederquerschnittsreifen viele Motorraeder auf, sie vermindern also die moegliche Schraeglage, wenn der Fahrer nicht durch erhoehten Koerpereinsatz diesem Aufstellen entgegenwirkt. Zweitens verkraftet ein Vorderreifen nur entweder Kurvenfuehrungskraft oder Bremskraft. Zu tiefes oder gar panisches Hineinbremsen in Kurven erhoeht die Gefahr, aufgrund eines wegrutschenden Reifens auf die Waffel zu bretzeln. Man weiss das hinterher nur nicht so genau...

Deshalb ist es ganz wichtig, das korrekte Tempo vor der Kurve anliegen zu haben und nicht auf gut Glueck ins Leere zu ballern. Auf Sicht fahren! Ploetzliche ueberraschungen koennen in den meist Faellen durch entschlossenes Druecken gemeistert werden, da die zunehmende Reibung der Reifen auf der Strasse erstaunlicherweise das ueberschuessige Tempo zuverlaessig abbaut.

Wer diese Grundregeln testet, wird feststellen, dass er das Motorrad ganz anders zu sehen beginnt. Es macht viel mehr Spass, ist sicherer und als willkommener Nebeneffekt steigt auch der Schnitt. Alles paletti jetzt? Halt! Ploetzlich ist das Tempo so hoch, dass man sich um ein Vielfaches mehr konzentrieren muss, denn wer beim zuegigen Aneinandersetzen dieser Regeln ploetzlich eine Masche fallen laesst, der hat schneller grosse Loecher in den Struempfen als ihm lieb ist.

Nun zu einem traurigen und ernsten Thema. Viel schlimmer als jede Hundekurve, jede Diesellache und sogar schlimmer als ein verregneter Sommer ist der Polizist. Es ist der natuerliche Feind des Street-Surfers. Es gibt zwar, das wissen wir, eine Menge lustiger Typen bei der Polizei, solche, die sich nach Feierabend auf ihre ZRX werfen um sich den Stress vom Hals zu blasen, aber im grossen und ganzen versteht der Polizist keinen Spass. Das darf er auch nicht, denn sobald er lacht oder gar ein Auge zudrueckt, wird er entlassen. Andere Leute zu nerven, das ist sein Job. Er kann nichts dafuer, deshalb muss man ihm auch nicht boese sein, sondern eher Mitleid haben. Frueher haben Polizisten Verbrecher verhaftet, heute muessen Polizisten Temposuender erwischen.

Unseren klugen Lesern stellen sich vermutlich folgende Fragen: Warum gibt es ein Tempolimit? Sind Tempolimits notwendig? Wenn ich temposuendige, bin ich dann ein schlechter Mensch? Was raten mir die Experten?

Die Antworten auf all diese Fragen beginnen mit dem durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer. Der durchschnittliche Verkehrsteilnehmer ist Autofahrer. Der durchschnittliche Autofahrer hat zwar vom Tuten, aber keineswegs vom Blasen Ahnung.

Fahrzustaende, die von einer gleichfoermigen, einheitlich normierten Fortbewegung abweichen, erschrecken ihn zutiefst. Er ist aber auch gar nicht in der Lage, solche Fahrzustaende herbeizufuehren, denn er steht meistens im Stau. Steht er nicht im Stau, sitzt er aber immer noch im Auto, und dieses Gefaehrt ist halt rein konstruktiv nicht in der Lage, aus eigener Kraft ungleichfoermige Fahrzustaende anzunehmen. Der Staat wiederum liebt seine Autofahrer und tut alles, um die normierte Fortbewegung zu unterstuetzen und gleichfoermiger zu machen. Deshalb gibt es immer mehr autotaugliche, gerade, breite und ergrottenscheisslangweilige Strassen. An Stellen, wo der Strassenverlauf noch der Topographie folgt, was sehr spannend sein kann, werden dann eben Tempolimits errichtet.

Langer Rede, kurzer Sinn: Die meisten Tempolimits auf offenen Landstrassen sind rein sicherheitstechnisch ungefaehr so notwendig wie Atombomben im Irak. Sie sind kein schlechter Mensch, wenn Sie sich nicht an diese Limits halten, sondern nur ein illegaler Mensch. Selbst religioese Menschen sollten prinzipiell kein schlechtes Gewissen haben, denn der einzige, der alles sieht, hat ja kein Tempolimits errichtet. Die Polizei arbeitet zwar daran, alles zu sehen, aber solange sie es noch nicht geschafft hat, wird es durchaus unbeobachtete Momente geben, die man ausnutzen koennte...

Tun Sie also, was Sie wollen, und vergessen Sie nie: Nur ein lebendiger und gesunder Mensch kann ein guter Motorradfahrer sein. Andernfalls ist er entweder eine Leiche oder ein Krueppel. Die Auswahl ist da leider sehr begrenzt...